Black lives matter? Nur wenn es der weißen Selbstbestätigung dient

Hallo Herr Özdemir,

ich muss mal ganz doof fragen. Jetzt wird schon seit Wochen protestiert und ich hab’s immer noch nicht kapiert. Alle scheinen sich einig darin, dass der Auslöser der Proteste und Ausschreitungen in den USA – die grausame Tötung George Floyds – ein rassistisches Verbrechen war. Sie selbst haben ja auch schon ein paar Stunden nach der Tat in etwa getwittert, dass hier rassistisch gemordet wurde und dass wir schön blöd wären, wenn wir immer noch nicht begriffen hätten, dass Rassismus sowieso am Ende immer töten würde. Das schüchtert mich ja auch ein. Aber verstehen tue ich’s trotzdem nicht. Irgendwie kann es mir auch bisher keiner richtig erklären. Und da Sie sich Ihrer Sache so sicher scheinen, dachte ich, Sie könnten mir das vielleicht erklären. Wieso Rassismus? Nur weil das Opfer schwarz und der Täter ein weißer US-Bulle waren?

Andere Farbkonstellation undenkbar?

Ich kenne nicht viel mehr als das erschütternde Video des Falls. Aber den Diskussionen im Netz zufolge kennen die meisten anderen auch nicht mehr. Sie vielleicht? Haben Sie irgendwelche entscheidenden Hintergrundinfos? Denn allein nach Betrachtung des Films wäre die Tat doch auch mit einem weißen Opfer denkbar gewesen. Oder auch ganz umgekehrt: mit einem schwarzen Polizisten, der einen weißen mutmaßlichen Kleinkriminellen ermordet. Wo die Tat auch noch durch einen asiatisch-stämmigen Polizisten gedeckt wird – da denkt man ja eigentlich nicht gerade an den KuKluxKlan.

Aber wenn die Farbe der Beteiligten austauschbar ist, wäre die Interpretation Rassismus natürlich willkürlich und voreilig. Wenn man die Farben hingegen nicht für austauschbar hält, stellt sich die Frage: warum nicht? Wenn Sie sich nicht vorstellen können, dass ein schwarzer Polizist in dieser Weise einen weißen Kleinkriminellen ermorden könnte, dann vielleicht, weil Sie ihn aus Ihrer privilegierten weißen Stellung heraus als hierzu unfähig abwerten? Weil Sie denken, Schwarze sind lieb, die machen sowas nicht? Oder weil Sie denken, wenn doch, werden sie einen guten Grund gehabt haben? Das wäre dann schon auch rassistisch, oder? Auch wenn es aus einer wohlmeinenden linken Haltung heraus gedacht würde.

Viele Opfer interessieren nicht

Es kursieren eine Menge Zahlen, die nahelegen, dass es in den USA auch in hoher Zahl weiße Opfer von Polizeigewalt gibt, dass auch schwarze Polizisten von weißen Kriminellen getötet werden und dass letztlich in allen bunten Konstellationen Gewalt angewendet wird. Insgesamt relativ mehr Schwarze bei den Opfern, aber auch mehr bei den Tätern. Selbstverständlich heißt das nicht, dass es keinen weißen Rassenhass gegen Schwarze gäbe. Den gibt es ganz offensichtlich. Genauso wie es rassistische Gewalt gibt. Vielleicht war der Mord an George Floyd rassistisch motiviert. Aber vielleicht auch nicht. Es scheint nicht sehr gewagt, zu vermuten, dass wir von einem weißen George Floyd einfach nichts erfahren hätten.

Die Leidenschaft allerdings, mit der sich nun Millionen auf das Bild des willkürlich mordenden rassistischen US-Bullen und den gepeinigten Schwarzen stürzen, irritiert mich. Parallel zu den weltweiten Protesten werden im Iran Schwule hingerichtet, in Nigeria wahllos Dorfbewohner massakriert, in Venezuela Oppositionelle einfach bei sich zu Hause im Wohnzimmer von der Polizei hingerichtet und keiner stört sich dran. Es ist nicht Solidarität mit Schwarzen oder Engagement für unterdrückte Minderheiten, welche die Proteste so groß gemacht haben. Nicht das Mitgefühl für Opfer von Polizeigewalt, nicht mal die Empörung über die Polizeigewalt selbst. Selbst ein Kampf gegen Rassismus klingt wenig überzeugend – wieso protestiert praktisch niemand gegen die massenhafte Internierung von Uiguren in China, die wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit von den herrschenden Han-Chinesen unterdrückt werden?

Für was wir uns wirklich interessieren

Herr Özdemir, ich glaube, darauf läuft es hinaus: Das einzige, was wirklich interessiert, sind Weiße! Mit der gleichen Fokussierung, in der schon die Kolonialherren auf sich und die Welt geschaut haben. Lediglich mit umgekehrten Vorzeichen. Früher waren wir allen überlegen, die Herren der Welt, die Krone der Schöpfung. Heute halten wir uns zwar – zunehmend realitätsverweigernd – immer noch für die Herrschenden, bewerten das aber umgekehrt. Nun sind wir die Schlechtesten, die Unmoralischsten, die Verdorbensten. Gierige Weiße, die den Planeten vergewaltigen und alle anderen ausbeuten. Deren Reichtum nur auf der Unterdrückung der armen Unterentwickelten beruht. Und alles Nichtweiße interessiert uns nur insofern es unsere über alle herausgehobene Verderbtheit bestätigt. Der totalen Selbstüberhöhung folgt die totale Selbsterniedrigung. Hauptsache wir sind immer noch zentraler Bezugspunkt, immer noch Maß aller Dinge.

Black lives matter? Nur wenn es der weißen Selbstbestätigung dient.

Update: Eine frühere Version dieses Textes beinhaltete polemische Äußerungen zu Aussagen Özdemirs, nach denen Rassismus immer nur von Weißen ausginge. So hatte das Özdemir jedoch nicht gesagt, die entsprechende Stelle wurde daher aus dem Text entfernt.