Silvester 2015 und Schwamm drüber? – An Traumatherapeutin nach Tagesspiegel-Interview

Sehr geehrte Frau Bittenbinder,

zunächst möchte ich Ihnen herzlich danken für die wichtige Arbeit, die Sie mit der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer leisten. Ganz offensichtlich ist die psychosoziale Unterstützung der Menschen, die vor allem in den letzten Jahren zahlreich nach Europa gekommen sind und vielfach in ihren Herkunftsländern wie auf ihrem Weg hierher Schreckliches erlebt haben und zum Teil schwer traumatisiert sind, ein für die Menschen ebenso wie für die Gesellschaft immens wichtiger Beitrag.

Parteilichkeit verzerrt

Sicher ist es dabei für Ihre Arbeit von hoher Bedeutung, eine Haltung zu pflegen, die frei von Ressentiments und Vorbehalten und von großer Offenheit gegenüber anderen Kulturen geprägt ist. Pauschalisierende Vorverurteilungen und rassistische Abwertungen wären kaum überwindbare Hindernisse für erfolgreiche Betreuungen und Therapien. Auch eine gewisse Parteilichkeit für die Betroffenen ist Ihrer Arbeit sicher zuträglich und nachvollziehbar. Allerdings bergen Haltungen, Überzeugungen und Einstellungen auch stets die Gefahr unbeabsichtigter Verzerrungen. Sachverhalte und Zusammenhänge werden stärker wahrgenommen, wenn sie dem eigenen Weltbild entsprechen und leichter ausgeblendet, wenn sie ihm widersprechen. Von diesem Vorwurf kann sich sicher niemand völlig freisprechen.

Vor einigen Tagen haben Sie im Tagesspiegel ein Interview gegeben, in dem Sie sich zu den Vorfällen in der Silvesternacht 2015 äußerten. Leider erzeugen Ihre Aussagen bei mir den Eindruck, dass es Ihrerseits in der beschriebenen Weise zu einem Ausblenden wichtiger Punkte aufgrund einer parteilichen Haltung gekommen sein könnte.

Silvester-Übergriffe nicht nur in Köln

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es in der Silvesternacht 2015 nicht nur in Köln, sondern auch an einigen anderen Orten zu vergleichbaren Vorfällen kam. Aus Hamburg, Bielefeld und anderen Städten wurde von Übergriffen berichtet, die fast deckungsgleich beschrieben wurden. Das Phänomen der Silvesterübergriffe lässt sich also kaum mit einer einfachen Gruppendynamik erklären. Mindestens müsste man eine Erklärung dazu finden, warum es gleichzeitig an verschiedenen Orten zu solch ähnlichen Dynamiken kam.

Denn es ist ebenfalls falsch, dass es häufiger zu solchen Exzessen käme und sie also nichts Besonderes seien. Ihre Aussage, dass es „immer wieder aggressive Menschen“ gäbe und das „in Deutschland genauso wie in Syrien“ sei, impliziert, dass die Vorfälle aus Ihrer Sicht offenbar eher gewöhnlich waren. Wäre es zutreffend, dass es solche Vorfälle immer schon gegeben habe und „Alkohol, Drogen und das Gruppenphänomen“ die wesentlichen Faktoren wären, müsste man nun tatsächlich nicht groß herumrätseln, warum es erneut dazu kam. Dann wäre es auch weniger relevant, dass die Täter offenbar durchweg muslimische Migranten waren. Ihr zutreffender Hinweis auf eine allgemein höhere Aggressivität junger Männer würde greifen weil gerade unter den „Geflüchteten“ seit 2015 der Anteil junger Männer besonders hoch ist. Hier könnte man sogar noch hinzufügen, dass die meisten dieser jungen Männer alleinstehend sind und keine soziale Kontrolle durch eine präsente familiäre Anbindung haben. Eine solche Situation begünstigt auch bei völlig anderen Gruppen delinquentes Verhalten.

Gruppenübergriffe in islamischen Ländern

Tatsächlich ist aber das gemeinschaftliche Missbrauchen von Frauen durch Männergruppen in aller Öffentlichkeit in Deutschland etwas vollkommen Neues. Es ist nicht bekannt, dass es Vorfälle wie die beschriebenen hierzulande jemals zuvor gegeben hat. Aus islamischen Ländern hingegen ist das Phänomen leider durchaus bekannt. Insbesondere im Zusammenhang mit den Protesten am Tahrir-Platz in Kairo 2011 wurde mehrfach darüber berichtet.

Es ist also notwendig, zu erklären, warum eine Tat, die es bisher nur in islamischen Ländern gab, auf einmal auch in Deutschland begangen wird, warum diese Form der Gewalt offenbar ausschließlich von Muslimen begangen wird und warum dies ausgerechnet passiert, kurz nachdem in der sog. Flüchtlingskrise viele Hunderttausend Menschen aus islamischen Ländern nach Deutschland eingewandert sind. Da ist doch sehr naheliegend, nach einem kulturellen Faktor zu fragen!

Frau Bittenbinder, ich verstehe sehr gut Ihren Impuls, die Frage empört zurück zu weisen. Ich habe selbst zahlreiche freundschaftliche Kontakte zu muslimischen Asylbewerbern gepflegt, habe viele Jahre mit Leidenschaft in antirassistischen Gruppen mitgewirkt und habe als Sozialpädagoge diese Thematik auch aus beruflicher Perspektive kennengelernt. Dabei habe ich selbst vielfach geradezu affektiv Menschen in Schutz genommen und vor Kritik verteidigt, obwohl diese sich äußerst problematisch verhalten haben.

Kein Relativieren von Menschenrechten

Wenn wir uns aber den Menschenrechten verpflichtet fühlen, dann sollten wir auch konsequent sein. Wenn menschenrechtswidrige Einstellungen in Gesellschaften gedeihen, die wir sonst vielleicht als marginalisiert und unterdrückt wahrnehmen, dann darf das kein Grund zum Relativieren sein. Wenn kriminelle Handlungen begangen werden, machen wir uns der Komplizenschaft schuldig wenn wir die Taten parteilich verharmlosen, nur weil wir daran gewöhnt sind, die Tätergruppen an anderer Stelle vor Rassismus in Schutz nehmen. Verbrechen sind zu verurteilen, vollkommen gleichgültig, woher die Täter sind. Dazu verpflichtet uns gerade auch ein antirassistischer Anspruch. Es hat weder im Positiven noch im Negativen eine Rolle zu spielen, welcher Herkunft Tätergruppen oder menschenfeindliche Einstellungen sind. Selbstverständlich sollte offen und dezidiert über die Hintergründe von Taten gesprochen und dabei auch die Frage zugelassen werden, ob es in muslimischen Gesellschaften spezifische Probleme gibt, die anderswo unbekannt sind. Gerade wenn es so deutliche Hinweise darauf gibt. Es ist ethisch nicht vertretbar, solche Vorfälle zu bagatellisieren, um der Diskussion auszuweichen.

Leider hat die Interviewerin das Thema gewechselt, als es interessant wurde. Denn ganz sicher ist es nicht Ihre Absicht, Verbrechen zu verharmlosen, Kriminelle zu decken und so die frauenverachtenden Haltungen hinter den Taten zu konservieren. Ich fürchte jedoch, dass Aussagen wie Ihre genau diesen Effekt haben. Mich würde sehr interessieren, welche Antworten Sie gegeben hätten, wenn Sie mit den vorgenannten Punkten konfrontiert worden wären. Die zentrale Frage, auf die das Interview hätte hinauslaufen müssen und die ich Ihnen gerne stellen würde, lautet provokativ zugespitzt:

Setzen Sie sich im Zweifel für Menschenrechte ein oder betreiben Sie lieber Klientelpolitik?

Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie hierzu Stellung nehmen möchten. Selbstverständlich würde ich gerne Ihre Antwort genauso wie diesen Brief auf querstrebe.com veröffentlichen. Entscheiden Sie sich gegen eine Antwort, wünsche Ihnen alles Gute und weiterhin viel Erfolg bei Ihrer in jedem Fall wichtigen Arbeit!

Mit bestem Dank und ebensolchen Grüßen,

Gero Ambrosius